„Wir übersetzen, damit die anderen sich verstehen können.“

Im Fokus des Projekts AIQNET steht die Vision, ein digitales Ökosystem zu schaffen, das medizinische Daten sammelt, mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) analysiert, sinnvoll strukturiert und der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt zugänglich macht − unabhängig davon, welche Programme und Geräte verwendet werden oder in welcher Klinik oder Praxis man sich befindet. Die TZM GmbH ist als Software- Dienstleister für Konnektivität und Cloud-Lösungen am Projekt beteiligt und vernetzt mit seinem Produkt, dem Universal Medical Gateway (UMG), medizinische Geräte miteinander. Diana Schwarz-Dermann von der BioRegio STERN Management GmbH sprach mit Prof. Dr. Rainer Würslin, Senior Advisor, und Bastian Mazzoli, Solution Manager Medical Connectivity, von der TZM GmbH in Göppingen über das Medizinprodukt UMG und ihre Teilnahme im Ökosystem AIQNET.

Die TZM GmbH übernimmt in AIQNET eine wichtige Rolle als Schnittstelle zwischen der Datenerzeugung und der Datenspeicherung. Würden Sie mir bitte die technischen Aspekte des UMG erläutern? Was macht das Gerät genau und was ist seine konkrete Aufgabenstellung im Klinikalltag?

Bastian Mazzoli: Das UMG ist für die Datenübertragung und die Übersetzung der Daten zuständig. Als Schnittstelle stellt es eine Verbindung zwischen medizinischen Geräten und Plattformen wie AIQNET her, um Daten zu transportieren. In der Medizintechnik speziell ist es so, dass jeder Hersteller sein eigenes Datenkonstrukt erzeugt. Sie haben beispielsweise vier unterschiedliche Beatmungsgeräte von vier verschiedenen Herstellern, die sprechen vier verschiedene Sprachen. Das UMG bringt genau diese verschiedenen Sprachen in einen Standard. Das ist ein Stück weit aus unserer Historie gewachsen, weil wir seit 20 Jahren die unterschiedlichen Sprachen der Geräte für andere Firmen übersetzen. Unser Produkt UMG übersetzt nun aber nicht in eine andere Firmensprache, sondern in eine Standardsprache. Dieser Standard heißt HL7 und damit können beispielsweise auch Krankenhausinformationssysteme oder Patientendatenmanagementsysteme arbeiten. Aktuell sind wir hauptsächlich auf Intensivstationen unterwegs, denn hier werden viele Geräte eingesetzt. Früher hat die Krankenpflegerin oder der Krankenpfleger die Daten händisch beispielsweise vom Beatmungsgerät abgeschrieben. Die Uhrzeiten wurden dabei oft nur geschätzt, da ja parallel noch andere Arbeiten durchgeführt werden mussten, bevor die Daten aufgeschrieben werden konnten. Letztendlich gehen so Beatmungsstunden des Geräts verloren, die nicht über die Krankenkassen abgerechnet werden können. Es wurde uns auch schon aus einer Klinik berichtet, dass die Werte nicht direkt vom Gerät abgelesen, sondern einander über den Flur zugerufen wurden. So können natürlich Übertragungsfehler passieren, genauso wie beim händischen Notieren auf Zetteln, die man nachher nicht mehr entziffern kann. Diese Übertragungsfehler können durch unsere Anbindung vermieden werden. Alles läuft im Hintergrund ab, die Daten werden automatisch ins System übertragen.

Prof. Dr. Rainer Würslin: Im jetzigen Betrieb dient das UMG der Digitalisierung und der Unterstützung der Pflegekräfte. Hauptsächlich geht es um die Entlastung der Kliniken und um ein besseres Abrechnen, weil auch die Krankenkassen den Handaufschrieb nicht mehr möchten. Es sollen Belege vorliegen, die angeben, wann und wie lange ein bestimmtes Gerät benutzt wurde und ob die Abrechnungen stimmen. Wir sagen immer ganz gern: Wir sind einfach ein Übersetzer. Wir können übersetzen, damit die anderen sich verstehen können. Im Projekt AIQNET können wir einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, Systemgrenzen zu überwinden und medizinische Daten zugänglich zu machen.

Das UMG ist ja bereits seit 2017 auf dem Markt und steht nun kurz vor der Rezertifizierung. Was bedeutet dies für Ihr Produkt?

Prof. Dr. Rainer Würslin: Die Rezertifizierung sollte in einigen Wochen abgeschlossen sein. Der Prozess ist sehr langwierig und aufwändig, aber genau das gibt den Ärzten und Patienten auch die Sicherheit, dass alles passt. Hintergrund ist, dass nicht nur Daten von Medizingeräten übertragen werden, sondern auch wichtige Alarmsignale. Spätestens hier zeigt sich, ob das Gerät alle Kriterien als Medizinprodukt erfüllt. Die Zertifizierung erfolgt nach MDD Anhang II (Medical Device Directive). Für diesen Zulassungsweg ist ein vollständiges QM-System (z.B. nach ISO 13485) Voraussetzung. Nach der erfolgten Zertifizierung ist das UMG ein Medizinprodukt der Klasse IIb.

Welchen konkreten Mehrwert können Sie Ärzten und Kliniken mit dem UMG anbieten?

Bastian Mazzoli: Einen ganz wesentlichen Vorteil für das Klinikum sehe ich in der Steigerung der Qualität. Zum einen in der Datenqualität, weil man eben die korrekten Daten verfügbar hat und zum anderen in der Pflege, weil sich das Personal nun wirklich um die Patienten kümmern kann anstatt viel Zeit für Routinetätigkeiten aufzuwenden. Nehmen wir beispielsweise die Alarmsignale. Wenn in einer Intensivstation zehn Betten mit je vier Geräten stehen, existieren 40 Geräte, deren Daten alle in der Zentrale zusammenlaufen. Die Alarmsignale sind oftmals aber nur an den Geräten selbst ablesbar. Das Personal muss also jedes Mal an das entsprechende Bett laufen, den Alarm prüfen und ausschalten. Bei 40 Geräten ist der Aufwand enorm und Patienten können eventuell nur mit Verzögerung behandelt werden. Die zentrale oder mobile Bedienung der Alarmsignale führt zu einer wesentlichen Steigerung der Behandlungsqualität, was sowohl für das Personal als auch für den Patienten ein riesiger Vorteil ist. Die große Stärke der TZM GmbH ist die Flexibilität bei der Anbindung verschiedenster Geräte – also der Herstellung der Konnektivität. Mit dem UMG sind wir in der Lage jedes Gerät, ob Monitor oder Infusionspumpe an das Endsystem anzubinden, das bereits im Klinikum vorhanden ist unabhängig von einzelnen Herstellern.

Innerhalb des Projekts AIQNET wird das UMG in der Charité in Berlin angewandt. Bitte erzählen Sie, wo und wie genau Ihr Gerät eingebunden ist und welche Erfahrungen Sie bereits gemacht haben.

Prof. Dr. Rainer Würslin: Im Zusammenhang mit AIQNET haben wir das Berliner Simulations- und Trainingszentrum (BeST) kennengelernt. Das BeST ist ein Geschäftsbereich der Charité, in dem eine Intensive Care Unit (ICU) für Fort- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung betrieben wird. Hier gibt es die Möglichkeit, neue Techniken und Behandlungsmethoden erproben zu können, unter anderem das Konzept „Walking-ICU“. Auf dieser soll das UMG eingesetzt werden. Statt dauerhaft sediert zu sein, soll der Patient sich bewegen und sogar das Bett verlassen, daher auch der Name „Walking-ICU“. Die Technik wie auch Behandlungsmethoden müssen sich dafür dynamisch der Situation anpassen und einander verstehen. Es gibt etwa 12 Geräte, die nach und nach in die Demo eingebunden werden sollen. Im April soll die Testphase starten.

Es sieht so aus, als ob das UMG auch den Operationsalltag deutlich vereinfachen könnte. Bitte schildern Sie, wie der Einsatz Ihres Geräts in Zukunft noch erweitert werden könnte und wie AIQNET dabei helfen kann?

Bastian Mazzoli: Ähnlich wie auf der Intensivstation könnte man auch im OP-Raum den Ablauf effizienter gestalten. Aktuell muss jedes Gerät individuell gesteuert werden. Für das Anästhesiegerät müssen Werte und die jeweilige Dosis eingegeben, bei der Infusionstechnik die Infusionsrate eingestellt werden. Daneben steht das Beatmungsgerät. Über den jeweiligen Monitor des Geräts lassen sich die Werte kontrollieren. Die Vernetzung der Geräte und die Zusammenführung auf einen zentralen Monitor, über den man alle Werte auslesen kann und der eine zentrale Steuerung ermöglicht, würde einen großen Mehrwert schaffen. So müsste man während der OP nicht mehr an jedes Gerät einzeln gehen. Da wir mit UMG in der Lage sind Daten in einer hohen Geschwindigkeit weiterzuleiten, kann auch die Datengeschwindigkeit zwischen verschiedenen OP-Geräten und – Instrumenten erhöht werden. Die Zusammenführung verschiedenster Geräte auf einen zentralen Monitor ist auch im Projekt AIQNET interessant. So können über die Plattform Geräte, die in den Kliniken stehen, aus der Ferne konfiguriert und neue Treiber gestartet werden.

Prof. Dr. Rainer Würslin: Wir haben zu Beginn des Projekts AIQNET gemerkt, dass wir bei den Kliniken noch Überzeugungsarbeit leisten müssen, damit diese Ihre Gesundheitsdaten auch sammeln, denn dies liegt nicht im Fokus der Kliniken. Es ist völlig klar, dass die Patientenbehandlung stets Vorrang vor der Datenerfassung hat – jedoch kann man genau mit diesen Daten die Patentenversorgung wesentlich verbessern. Die Corona-Pandemie hat dem ganzen Thema nochmals Aufwind gegeben. Es werden vermehrt Daten erfasst, um Erkenntnisse über diese neue Krankheit zu erhalten. Auch für AIQNET wünschen wir uns noch etwas mehr Durchschlagskraft, damit es nicht bei einzelnen Leuchtturmprojekten bleibt. Die Offenheit der Kliniken, sich an solchen Vorhaben zu beteiligen, spielt hierbei eine wesentliche Rolle Ganz konkret stelle ich mir den OP der Zukunft so vor: Wenn während einer Operation die Daten von allen Geräten gesammelt werden, können diese durch KI mit alten OP-Daten verglichen werden. Der Arzt erhält dann während der OP Hinweise aus früheren Operationen und daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen. Tipps für die Ärzte aus der Vergangenheit quasi. Die Vergangenheit stellt natürlich eine riesige Datenvielfalt dar, die man erstmal bewältigen muss. Die Menge an retrospektiven Daten muss mit neuen Daten kombiniert und daraus Empfehlungen abgeleitet werden. An der Entwicklung dieser „OP der Zukunft“ kann sowohl das UMG als auch AIQNET einen Beitrag leisten.

Welche Bedeutung messen Sie dem Medical Data Ecosystem AIQNET bei und warum ist es Ihnen wichtig, am Projekt teilzunehmen?

Prof. Dr. Rainer Würslin: Es ist wichtig, dass die Digitalisierung auch vermehrt in die Kliniken Einzug hält. Auch im Bereich der Standardisierungen muss noch einiges vorangetrieben werden, damit es nicht einzelne Insellösungen gibt. Ein Austausch über AIQNET ist daher in meinen Augen ganz essentiell. Ich denke, es ist wichtig, dass mehrere Kliniken miteinander versuchen, Wege aufzuzeigen, wie Digitalisierung und eine gute Zusammenarbeit funktionieren können. Durch das digitale Ökosystem AIQNET erhalten wir Zugang zu Kliniken und einem Netzwerk an wichtigen Stakeholdern für unsere Firma. Zudem lernen wir Use Cases kennen und erfahren so, wo es Bedarf an Digitalisierung gibt und wo wir helfen können. Neben der Charité hatten wir noch weitere fruchtbare Kontakte über AIQNET mit Klinik und Industrie beispielsweise mit dem Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS) oder den Firmen Inomed Medizintechnik GmbH und Aesculap AG. Im TZM GmbH denken wir aber auch schon ein paar Jahre voraus. Aktuell planen wir ein UMG2, beispielsweise mit WLAN-Anschluss. Es gibt durchaus schon ein Lastenheft für so ein Zukunftsgerät. Daher sind wir froh über jeden Input, was so ein Gerät für die Zukunft benötigt. AIQNET ist für uns der Schritt durch die Tür zur Forschung und zu neuen Anwendungsfällen.

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